2, Was ist phantastisch? Erst eine Definition, dann
wird es kompliziert

E.T.A. Hoffman und der schöpferische Übersetzungsfehler: "Phantastische Literatur"; Hoffmanns "Don Juan, eine romantische Künstlernovelle"; Jaques Callot und seine feuerspeienden Drachen und fliegenden Fahnenträgern.

Phantastisch sind alle Erzähltexte, in denen die Naturgesetze verletzt werden. So etwa meint es der Strukturalist Uwe Durst in seiner "Maximalistische Definition" (es gibt auch eine minimalistische, die ich vernachlässigen möchte). In der maximalistischen unterscheidet er "nicht-historische" (also rein erfundene) und "historische" (zum Teil realistische) Texte. Zu den Nicht-Historischen zählt er die Sagen, Heldenlieder der Völker und auch die Bibel. Als "historisch phantastisch" bezeichnet er Texte, die zunächst eine realistische Welt beschreiben, in der ein übernatürliches Ereignis stattfindet (dies kommt meiner Auffassung am nächsten, außer, dass hier die Forderung nach einem Inhalt, Aussage, Botschaft fehlt).
Zu dieser Kategorie zählt man auch Werke mit einem realistischen Kern, die seit Beginn des 18. Jahrhunderts entstanden sind. Damals wurde in den europäischen Literaturzirkeln beschlossen, was "realistisch" sei. Der Beschluss heißt in der Literaturwissenschaft: "Realistische Literaturkonvention". Wie wenig realistisch dieser Realismus damals schon gedacht war, sehen wir später.
Besonders hübsch finde ich, dass der Begriff "Phantastische Literatur", durch einen Übersetzungsfehler entstanden ist: E.T.A. Hoffmanns "Fantasiestücke in Callots Manier" wurden 1814 schlicht als "Contes fantastiques" (Phantastische Erzählungen) ins Französische übersetzt statt "Pièce de la fantasie à la Callot". E.T.A. Hoffmann (geb. 1776 in Königsberg, gest. 1872 in Berlin) war Schriftsteller der Romantik (eben seiner Zeit). Außerdem Jurist, Komponist, Kapellmeister, Musikkritiker, Zeichner, Karikaturist. Die "Fantasiestücke in Callots Manier" sind eine Sammlung verschiedener seltsam-phantastischer Erzählungen. In "Don Juan, eine romantische Künstlernovelle" entdeckt der Reisende Ich-Erzähler im Hotelzimmer des Gasthauses, in dem er untergekommen ist, eine Tapetentür, die in eine Theater-Loge führt. Es wird "Don Juan" von Mozart gegeben. Plötzlich steht die Sängerin neben ihm in der Loge – und singt doch weiter auf der Bühne. Auch in der Nacht betritt er die Loge, hört ihre Stimme, riecht ihr Parfüm. Am nächsten Tag hört er in der Schenke des Gasthauses, dass die Sängerin in der Nacht gestorben sei.

Jaques Callot (1592 – 1635 in Nancy) französischer Zeichner Grafiker, Radierer, arbeitete unter anderem in Florenz, Rom, Brüssel und Paris. Für die Qualität seiner Arbeiten spricht auch, dass sogar Rembrandt van Rijn (holländischer Maler, 1606 – 1669) sie sammelte. 1633 produzierte Callot - Angeregt durch den Dreißigjährigen Krieg - 18 Radierungen unter dem Titel: "Les misères de la guerre" – "Die Gräuel des Krieges".
Darunter einen riesigen "Baum mit Gehängten" Soldaten und Zuschauer. Außerdem den "Eintritt in den Krieg zweier französischer Edelleute" (den Herren Couvonge…), begleitet von feuerspeienden Drachen und fliegenden Fahnenträgern, daneben eine Art Kriegs-Karnevalsgesellschaft auf dem Lande mit zwei tanzende Teufel-artigen Wesen in Commedia-dell-arte-Kostümen ("The Two Pantaloons", British Museum). Callot zeigte nicht nur die Bevölkerung als Opfer. Auch die Täter litten: Die Soldaten, die später eingesperrt oder gelyncht wurden oder als verkrüppelte Bettler endeten; die Zivilbevölkerung, die nur durch Stehlen, Plündern und ebenfalls durch Betteln überleben konnte. Diese vernichtende Kritik menschlicher Narrheit und Grausamkeit wurden – nahezu 200 Jahre später – Vorbild für den Spanier Francisco de Goyas (1746 – 1828) Gemälde "Los desastres de la guerra" – "Die Schrecken des Krieges".

Der Dichter E.T.A. Hoffmann sah Anfang 1813 in Bamberg Blätter Callots. Er glaubte in dessen Phantasien und Realismus eine tiefe Seelenverwandtschaft zu entdecken. So gab er seinen "Phantasiestücken", mit Aufsätzen, Erzählungen und Märchen den Untertitel: "In Callots Manier" – Nach Callots Art.

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